«Wir erfuhren, dass wir wohl einen sehr steinigen Weg vor uns haben»
Elias Spreuer musste sich bei seiner Geburt regelrecht ins Leben kämpfen und anfangs war nicht klar, ob er diesen Kampf gewinnen würde. Inzwischen geht es ihm nach zahlreichen Spitalaufenthalten zwar viel besser, seine Beeinträchtigung bestimmt jedoch nach wie vor einen Grossteil des Alltags seiner Familie und stellt die Eltern immer wieder vor neue Herausforderungen.

Die Familie Spreuer-Köppel lebt in einem liebevoll umgebauten Einfamilienhaus mit Garten am Rande der Aargauer Gemeinde Wohlenschwil. Ländlich und beschaulich ist es hier – der Blick schweift über Wiesen und Felder, ein leichter Wind vertreibt die ärgste Sommerhitze.
Auf dem Gartensitzplatz steht ein Buggy im Schatten – darin liegt friedlich schlafend der eineinhalbjährige Luan. Seine Mama Yvonne Spreuer schaut leise nach ihm, lässt ihn aber noch ein bisschen seinen Mittagsschlaf geniessen. Der kleine Wirbelwind wird später noch genügend Gelegenheit dazu haben, fröhlich durchs Haus zu toben. Yvonne Spreuer lächelt und wendet sich wieder dem dreijährigen Elias zu. Dieser liegt im Wohnzimmer in einer Art grossem Laufgitter und brummelt zufrieden vor sich hin. Papa Florian Köppel hat das Laufgitter selber gebaut, damit die beiden Kinder gemütlich spielen können. Die Höhe hat er dabei so eingerichtet, dass Elias bequem gepflegt werden kann und erst noch gut mitbekommt, was um ihn herum alles geschieht.
Elias liegt inmitten von Stofftieren und Spielsachen und widmet sich voller Hingabe einem Beissring. An der Wand hinter ihm steht in grossen Holzbuchstaben «Elias Burg». Während Yvonne Spreuer leise mit Elias spricht, kontrolliert sie den grossen schwarzen Rucksack, der an einem Pfosten am Rande des Laufgitters aufgehängt ist. In diesem Rucksack befindet sich Elias Ernährungspumpe, die während 21 Stunden am Tag flüssige Nahrung direkt in den Dünndarm des kleinen Jungen befördert.
Ins Leben gekämpft
Elias kam nach einer eigentlich problemlosen Schwangerschaft mit einem Kaiserschnitt zur Welt. Die Eltern hatten sich zwar einen natürliche Geburt gewünscht, da sich Elias Nabelschnur aber mehrfach um seinen Hals gewickelt hatte und sich das Baby zudem auch kurz vor dem Geburtstermin noch in Steisslage befand, entschied man aus Sicherheitsgründen, einen Kaiserschnitt durchzuführen.
Yvonne Spreuer seufzt tief. Für sie sind die Erinnerungen an Elias Geburt und die Zeit danach heute noch wie dunkle Wolken, die sich nur ganz langsam lichten. «Schon während der Geburt wurde es plötzlich sehr hektisch im Operationssaal», erzählt sie, «Elias Sauerstoffwerte sackten total in sich zusammen, und als er schliesslich auf der Welt war, schien seine Haut ganz blau.» Florian Köppel nickt. «Wir beide waren total hilflos und mussten mitanschauen, wie die Ärzte um das Leben unseres kleinen Sohnes kämpften.» Elias erholte sich nur ganz langsam und hatte Mühe, selber zu atmen. Was auch schnell auffiel: Elias war viel kleiner, als das bei einem normal ausgetragenen Neugeborenen zu erwarten gewesen wäre. «Die Ärzte erklärten uns, dass der Kleine wohl im letzten Teil der Schwangerschaft aufgehört habe zu wachsen», so Florian Köppel.
Elias wurde nach ein paar Tagen ins Kinderspital nach Zürich verlegt, wo er weiterhin intensiv betreut und untersucht wurde. Für seine Eltern begann eine nervenaufreibende Zeit, denn zu der grossen Sorge um ihren kleinen Jungen kamen verschiedene Einschränkungen aufgrund der damals herrschenden Pandemiesituation hinzu. Elias kam kurz nach dem ersten Lockdown im Juni 2020 zur Welt, und in den Spitälern galten strikte Abstands- und Hygienemassnahmen. Yvonne Spreuer und Florian Köppel durften ihren Sohn nur einzeln besuchen und mussten dabei eine Maske tragen. Florian Köppel sagt leise: «Es wäre nur schon sehr tröstlich für uns gewesen, wenn wir einfach einmal gemeinsam am Bett von Elias hätten weinen dürfen.»
Eine sehr seltene cerebrale Bewegungsbeeinträchtigung
Ein Gentest brachte wenige Wochen nach der Geburt die traurige Gewissheit, dass Elias von einer sehr seltenen Genmutation und cerebralen Bewegungsbeeinträchtigung betroffen ist. Es gibt weltweit nur gerade 100 dokumentierte Fälle des Bainbridge Ropers-Syndroms, entsprechend wenig ist über diese genetische Mutation bekannt. «Wir erfuhren, dass unser Sohn mit einer schweren Beeinträchtigung würde leben müssen und dass wir wohl einen sehr steinigen Weg vor uns haben», so Yvonne Spreuer, «ansonsten konnten uns die Ärzte aber keine Prognosen über Elias Entwicklung geben.»
Elias verbrachte die ersten 10 Wochen seines Lebens im Spital, bevor ihn seine Eltern endlich mit nach Hause nehmen durften. Auch später mussten ihn seine Eltern immer wieder teils notfallmässig ins Spital bringen. Aufgrund seiner Beeinträchtigung kämpfte der Junge zuerst mit Herzaussetzern, später kam schweres Erbrechen hinzu. Eine PEG-Sonde brachte nur kurz Erleichterung, bald schon begannen die Brechanfälle von Neuem. Erst als Elias schliesslich eine sogenannte Jejunalsonde, die die Nahrung am Magen vorbei direkt in den Dünndarm pumpt, gelegt wurde und er ein spezielles Medikament aus der Onkologie erhielt, entspannte sich die Situation. Seither muss Elias fast rund um die Uhr sondiert werden. Anders als der Magen besitzt der Darm nämlich keine Speicherfunktion, weshalb eine kontinuierliche Nahrungsgabe nötig ist.
Pflege und Betreuung rund um die Uhr
Für die Familie Spreuer-Köppel hat sich der Alltag dank der neuen Sonde massgeblich erleichtert, seither sind auch die Spitalaufenthalte seltener gworden. Trotzdem ist Elias rund um die Uhr auf Pflege angewiesen. Da er aufgrund seiner Beeinträchtigung auch an einer schweren Schlafapnoe leidet, muss er auch nachts überwacht werden. «Inzwischen haben wir für Elias eine Überdruckmaske, die seine Atemwege beim Schlafen offenhält», erklärt Yvonne Spreuer, «da er die Maske aber beim Schlafen immer wieder verschiebt, muss dauernd jemand nach ihm sehen.»
Unterstützung erhält die Familie Spreuer-Köppel von der Spitex, die fünfmal pro Woche bei der Betreuung mithilft und auch an vier Nächten die Überwachung übernimmt, sowie von Assistenzen, die regelmässig bei Elias Pflege helfen. «Ohne diese Unterstützung ginge es nicht», so Florian Köppel, «die Belastung wäre einfach zu gross.»
Eine sehr grosse Entlastung waren für die Familie auch die beiden angehenden Pflegefachfrauen, die durch die Vermittlung der Stiftung Cerebral ihr Praktikum bei ihnen verbrachten und während jeweils zwei Wochen die Pflege und Betreuung von Elias übernahmen. Florian Köppel: «Wir finden die Idee sehr gut, dass angehende Pflegefachpersonen betroffene Familien in ihrem Alltag begleiten. Dabei erfahren sie hautnah, wie ein Kind mit einer Beeinträchtigung gepflegt wird und dass jedes einzelne von ihnen aufgrund seiner Beeinträchtigung individuelle Bedürfnisse hat, wenn es im Spital ist.» Die Familie Spreuer-Köppel, die mit Elias selber viel Zeit im Spital verbringen musste, stellt sich gerne für solche Praktikas zur Verfügung. Yvonne Spreuer: «Zudem wars für uns eine wirklich spannende Erfahrung und die beiden angehenden Pflegefachpersonen, die bis jetzt bei uns ihr Praktikum absolvierten, waren überaus sympathisch und leisteten uns wertvolle Hilfe.»
Die Angst war während der zweiten Schwangerschaft ein steter Begleiter
Luan ist aufgewacht und reibt sich schlaftrunken die Augen. Yvonne Spreuer holt ihn nach drinnen und setzt ihn zu Elias ins Laufgitter, wo er ziemlich schnell munter wird und bald schon ausgelassen mit einem grossen Stoffbären spielt. Elias freut sich, dass sein kleiner Bruder bei ihm ist. Er strahlt übers ganze Gesicht.
«Seit Luan vor eineinhalb Jahren auf die Welt gekommen ist, ist unser Alltag zwar noch ein bisschen anstrengender geworden», meint Yvonne Spreuer, «gleichzeitig sind wir aber auch sehr froh, dass wir uns dazu entschieden haben, noch ein zweites Kind zu bekommen.»
Als feststand, dass Elias von einer genetischen Mutation betroffen ist, wurde den Eltern im Spital versichert, dass diese Mutation rein zufällig entstanden sei und sie bei einer erneuten Schwangerschaft keineswegs mit einer erneuten Beeinträchtigung rechnen müssten. «Die Angst war aber natürlich trotzdem ein steter Begleiter», gesteht Yvonne Spreuer, «auch wenn wir verschiedene vorgeburtliche Kontrollen durchführen liessen.» Umso grösser war dann die Erleichterung, als Luan gesund zur Welt kam.
Die beiden Brüder Elias und Luan sind ein gutes Team und bereichern sich gegenseitig. Yvonne Spreuer und Florian Köppel schauen ihren Kindern lächelnd zu, wie sie im Laufgitter herumwuseln. Yvonne Spreuer: «Eigentlich wollte ich früher gar keine Kinder haben. Und nun, wo wir zwei so wunderbare Jungen haben, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie ein Alltag ohne die beiden wäre.»
Hilfe für die Familie Spreuer-Köppel
Die Familie Spreuer-Köppel hat sich schon kurz nach Elias Geburt bei der Stiftung Cerebral angemeldet. Neben den beiden angehenden Pflegefachpersonen, die wir ihnen als Praktikantinnen vermitteln konnten, haben wir die Familie auch bei der Anschaffung eines Pflegebettes unterstützt. Eigentlich bestünde bei der Invalidenversicherung erst ab einem Alter von vier Jahren ein Anrecht auf ein solches Bett. Da Elias aber so schwer beeinträchtigt ist und seine Pflege für die Eltern schon jetzt sehr anstrengend ist, übernehmen wir die Kosten, bis Elias vier Jahre alt wird. Für die Eltern bedeutet das Pflegebett eine riesige Erleichterung, weil sie ihn so viel besser anziehen und wickeln können und zudem auch das Überdruckgerät für Elias Schlafapnoe gut Platz findet. Elias fühlt sich in seinem grossen Bett rundum wohl und geniesst die Möglichkeit, darin auch einmal mit Mama und Papa kuscheln zu können.